Wurzel und Flügel

Nicole Stadler (* 1959)

 

Ich habe zwar die Deutsche und die Französische Staatsangehörigkeit, aber was dabei immer völlig unter den Tisch fiel: meine beiden Urgroßmütter väterlicherseits waren Polinnen aus dem während der Polnischen Teilungen von Deutschland besetzten Gebiet (Poznan).

Außerdem ist mein Vater in Wroclaw aufgewachsen. Siehe Text anbei.

 

Botschaft für die nachkommenden Generationen:

Ich habe bemerkt, dass das Wissen um meine Herkunft, bzw. die meines Vaters für meine Identität wichtig war. Das war vor etwa 5 Jahren, als ich auch einen Cousin 2. Grades meines Vaters in Wroclaw ausfindig gemacht habe. Ich hatte dann das Bedürfnis, darüber auch meine Kinder zu informieren. Diese haben als junge Erwachsene im Moment aber ganz andere Themen und sind nur immer mal wieder kurz interessiert. Sie haben sich das eine oder andere erzählen  lassen und um Dokumente und Zusammenstellungen (als Dateien) gebeten, beobachten meine Beschäftigung mit Polen und der Sprache und ich lasse das so gedeihen. Schließlich sind sie ja auch von dem Ganzen nochmal eine ganze Generation weiter entfernt.

 


Wurzeln und Flügel

Ich gebe meinen Kindern folgende Botschaft mit auf den Lebensweg:

Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.

Im vorigen Jahrhundert leitet ein Theofil aus der Gegend um Posen mit seiner jungen Familie als Landwirtschaftsingenieur ein Gut in der Nähe von Warschau, das damals zur Russland gehörte. Theofil unterstützt beim Januaraufstand 1863 die polnischen Truppen, was entdeckt wird. Vor der drohenden Verbannung nach Sibirien flieht er nach Posen, in den von Deutschland besetzten Teil Polens. In Folge der Reise mit einer Kutsche bei schwerstem Frost sterben vier seiner kleinen Kinder. Theofil pachtet dann in der Umgebung von Posen ein Gut. Als später die Repressionen gegenüber den Polen zunehmen, wird ihm die Pacht gekündigt, woraufhin er sich das Leben nimmt. Inzwischen hat die Familie sieben Kinder, von denen die beiden jüngsten meine Urgroßmütter werden. Janusz, Sohn eines weiteren dieser sieben Kinder, war im polnischen Widerstand, überlebte KZ-Haft, und wurde später Vater von Piotr.

Eines Tages begann ich nach dem Nachnamen Zgorzalewicz zu suchen und fand, weil der Name selten ist, diesen Sohn Piotr, den ich inzwischen kennengelernt habe. Er ist Cousin zweiten Grades meines Vaters und von ihm habe ich die eingangs dargestellte Familiengeschichte erst Anfang 2010 erfahren.

Mein Vater hatte von dem bisher erzählten keine Ahnung und hatte demzufolge „nichts“ mit Polen zu tun, da seine Omas für ihn „Preußinnen“ gewesen waren. Da er 1939 erst sieben Jahre alt war, hatte man ihn über die Familiengeschichte im Unklaren gelassen. Die beiden jüngsten Töchter von Theofil heiraten also nach Breslau und nach Frankreich. In Breslau wird dann meine Oma geboren und sie heiratet sehr jung ihren „französischen“ Cousin. Die Ehe hält nur ganz kurz, und mein Vater wächst dann in Breslau ohne Vater auf. Vor dem Schicksal fast aller seine Klassenkameraden, die umkommen, ist er geschützt, weil er seinen Arbeitsdienst in einem Lazarett ableistet, was sehr belastend gewesen sein muss. Da die Großmutter nicht transportfähig ist, wird die Familie nicht evakuiert, als Breslau Festung wird. Mein Vater erlebt die viermalige Evakuierung in andere Stadtteile, dann die Besetzung durch Polen, bis er 1946 mit seiner Mutter nach Lyon zu Verwandten seines Vaters ausreist.

Nachdem mein Vater geheiratet hatte, zog er nach Süddeutschland, an einen Ort, an dem ich mich ich mich nie richtig willkommen fühlte. Ihm bot sich aber aufgrund seiner Sprachkenntnisse ein sicherer und interessanter Arbeitsplatz. Ich hätte nun glücklich in einer ganz normalen Familie aufwachsen sollen, aber wir waren anders als die anderen Familien und ich fühlte mich auch immer anders als die Anderen. Auch wurden bei uns keine Traditionen gepflegt oder etwas von früher erzählt. Die Vertreibung war gar kein Thema bei uns, aber unter dem Verlust seine Heimat muss mein Vater und seine Mutter trotzdem sehr gelitten haben.

Während ich meine Familiengeschichte aufarbeitete, fand ich auch diesen Satz, der Cicero zugeschrieben wird, “Wer nicht weiß, was vor seiner Geburt passiert ist, wird immer ein Kind bleiben.” Mit diesem Wissen kann man die vielleicht schwierigen Verhaltensweisen der Eltern oder Großeltern besser verstehen und es trägt dazu bei, eine Identität zu bilden. Ich selber bin auch gegenüber anderen Menschen viel verständnisvoller geworden. Auch dass manches anders sein kann, als man denkt – wie bei mir die Verwandtschaft zu dem mir zunächst ganz fremden Polen – war eine wichtige Lektion. Schließlich gab es mutige Menschen in meiner Familie, das lässt Flügel wachsen auch in verzweifelten Situationen. Auch dass möglichst viel Transparenz, Ehrlichkeit und Offenheit wichtig ist, hoffe ich weitergeben zu haben.

23. November 2014

Nicole Stadler, Fehmarner Str. 22, 13353 Berlin, 0049-171-8294249, 0049-30-64317461
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